7.10.2016, 05:30 Uhr nzz.ch
Der letzte Nazi-Jäger
von Judith Leister

Der Leiter des Jerusalemer Wiesenthal-Zentrums, Efraim Zuroff, lässt nicht locker, wenn es um das Aufspüren der letzten NS-Täter und -Kollaborateure geht. Dabei geht es auch um das Geschichtsbild.

Im Herbst geht man in Litauen gern in die Wälder, um Pilze zu sammeln. Mancher findet dabei, was er nicht gesucht hat: verwitterte Gedenksteine aus der Sowjetzeit, in deren Nähe jüdische Massengräber liegen.

Im letzten Sommer und Herbst war auch Efraim Zuroff gemeinsam mit der litauischen Journalistin Ruta Vanagaite im Wald. Das Autorenteam recherchierte zu den Mordstätten aus dem «Holocaust-Atlas» der Jüdischen Gemeinde Litauens für ein Buch. Manchmal standen die beiden gottverlassen im Wald und konnten den bezeichneten Ort nicht finden. Denn markierte Wege gibt es nicht. Und nicht überall ist nach dem Krieg ein Stein aufgestellt worden. Wenn sie Glück hatten, trafen sie jemanden, der die Lage der Gräber kannte – und damals vielleicht sogar Zeuge der Morde war. Zweiunddreissig Mal stand Zuroff letztes Jahr an einem Grab und sprach das Kaddisch und das El Malai Rachamim, die Gebete für die Toten. An zweiunddreissig von insgesamt 227 Massengräbern in Litauen, in denen insgesamt bis zu 200 000 Tote liegen.

Sterben der Tätergeneration

Diese traurigen Augenblicke gehören zur Arbeit von Efraim Zuroff, dem 68-jährigen Leiter des Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrums, den ich in einem kleinen Apartment in einer «gated community» in Vilnius treffe. Der grosse Mann mit Poloshirt und Kippa besitzt eine weltweite Reputation als «letzter Nazi-Jäger». Rund 40 Täter führte er lokalen Gerichten zu. Verurteilt wurden jedoch die wenigsten.

Mit dem Wegsterben der Tätergeneration sieht Zuroff seine Tätigkeit nicht als beendet an. «Wir kämpfen gegen die Verzerrung des Holocaust und gegen den Antisemitismus, aber auch gegen die Delegitimierung Israels», sagt er. Gegenwärtig beschäftigt er sich vor allem mit der in einigen Ländern Osteuropas noch immer geleugneten Komplizenschaft bei den NS-Verbrechen und dem Missbrauch des Begriffs «Genozid» für die Verbrechen der kommunistischen Zeit – auch deshalb, da mit diesem Begriff stets von der Verantwortung am Judenmord abgelenkt werde.

Dass auch diese Verbrechen zu sühnen sind, steht für ihn ausser Frage: «Natürlich müssen auch die Verbrechen der Kommunisten vor Gericht verhandelt und gegebenenfalls entschädigt werden. Aber sie bilden kein Äquivalent zum Holocaust.»

Zu Litauen hat Zuroff eine besondere Beziehung. Seine Grosseltern mütterlicherseits waren Litwaken; sie wanderten noch vor dem Ersten Weltkrieg in die USA aus. Zuroff wuchs in Brooklyn in einer orthodoxen Familie auf. Mit seinem Grossvater, einer der prägenden Gestalten des religiösen Zionismus in den Staaten, der massgeblichen Einfluss auf seine Erziehung hatte, teilt er den «Superioritätskomplex» – wie er es nennt – der litauischen Juden. «Alle grossen religiösen, sozialen und politischen Bewegungen des Judentums kamen aus Osteuropa. Das Litwakentum hat sich stets als Gegenpol zum Chassidismus verstanden. Es steht für ein intensives Studium der Thora und einen rationaleren Zugang zur Welt. Ich weiss noch, wie mein Grossvater mir einmal in einem Brief schrieb, er würde mir jede Summe kompensieren, die ich mit einem Job verdienen könne, wenn ich mich nur wieder an meine Bücher setzte. Ich hatte gerade mit Schneeschippen ein wenig Geld verdient.»

Die Tatsache, dass er seinen Vornamen nach einem Onkel erhielt, der mit seiner Familie im Holocaust umkam, meint Efraim Zuroff, könnte ihn unterbewusst darin bestärkt haben, sich nach der Promotion in Geschichte ganz der Nazi-Jagd zu verschreiben.

Der Fall Dinko und Nada Šakić

Inzwischen hat Efraim Zuroff mehr als sein halbes Leben damit verbracht, NS-Täter vor Gericht zu bringen. Immer wieder startete er neue Initiativen, um der letzten Täter habhaft zu werden. Als einen seiner grössten Erfolge im Bereich der Strafverfolgung bezeichnet er den Fall Dinko und Nada Šakić. Der Kroate war im Krieg einer der Kommandanten des berüchtigten Ustascha-Lagers Jasenovac, seine Frau Wärterin in einem der Aussenlager. Das Lager, in dem nach konservativen Schätzungen Zehntausende Serben, Juden, Roma und kroatische Regimegegner ermordet wurden, funktionierte völlig unabhängig vom verbündeten Deutschen Reich.

1998 spürte Zuroff die beiden in Argentinien auf und erreichte die Auslieferung an Kroatien. In Zagreb wurde Dinko Šakić zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt; er starb in Haft. Seine Frau galt wegen ihrer Demenz als nicht verhandlungsfähig. Inzwischen arbeitet Zuroff weiter daran, dass die Verbrechen von Jasenovac nicht aus dem Gedächtnis verschwinden.

Dänisches Freikorps

Im September dieses Jahres besuchte Bartholomäus I., der Patriarch von Konstantinopel, das ehemalige Lager im heutigen Kroatien. Bei der begleitenden Konferenz in Zagreb war Zuroff einer der Hauptredner. «Zum ersten Mal hat ein Oberhaupt der orthodoxen Kirche Jasenovac besucht», sagt er. «Ein noch grösserer Erfolg wäre es, wenn der Papst dorthin käme. In Jasenovac waren katholische Geistliche unter den Tätern – bis hin zum Lagerkommandanten.»

Nicht immer ist Zuroff erfolgreich. 2011 bereitete er in Budapest einen Prozess gegen den früheren Gendarmerie-Offizier Sándor Képíró vor, der 1942 an einem Massaker an über 1000 Juden, Serben und Roma in Novi Sad beteiligt war. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Da liess Zuroff seiner Enttäuschung freien Lauf und weinte vor dem Gerichtssaal. Ebenso kann er sich über Erfolge freuen. «Sehr glücklich» ist er über den Bewusstseinswandel, der sich in jüngster Zeit in Litauen bei der Frage der NS-Kollaboration abzeichnet. «Erstmals wurde der Holocaust als Tragödie für ganz Litauen verstanden, nicht nur für die Juden. Dieser Wandel kommt von unten, ist getragen von den Bürgern aus allen Schichten. Die Initialzündung war sicher Ruta Vanagaites Buch «Musiskiai» (dessen inoffizieller Co-Autor Zuroff war). Das setzt die Politiker unter Zugzwang. Bisher war Litauen Vorreiter in Osteuropa, wenn es um die Relativierung des Holocaust ging. In Lettland, Estland, Ungarn und der Ukraine ist noch kein Wandel in Sicht. Dort werden noch immer, wie bisher auch in Litauen, Strassen und Plätze nach Judenmördern benannt. Es gibt dort kein wahrheitsgemässes Geschichtsbild.»

Warten auf die Entscheidung

Momentan hat Zuroff zwei Fälle auf dem Tisch – aus einem Land, das dafür bekannt ist, 90 Prozent seiner Juden gerettet zu haben. Hintergrund ist die Buchpublikation der dänischen Historiker Dennis Larsen und Therkel Straede. Sie veröffentlichten 2014 «Eine Schule der Gewalt», eine Studie über rund 1000 Dänen, die sich unter der deutschen Besatzung freiwillig zum «Freikorps Dänemark» gemeldet hatten. In einem Lager in Bobruisk, Weissrussland, soll diese dänische Einheit in den Jahren 1942/43 für die Bewachung von 1500 Juden zuständig gewesen sein – von denen die meisten starben.

«Kein Mensch weiss, was in diesem Lager passiert ist», sagt Efraim Zuroff. «Die dänische Justizministerin hat mir auf mein Schreiben hin gesagt, dass ich persönlich nach Kopenhagen kommen und dort Anzeige erstatten müsse. Das habe ich im letzten Sommer getan. Es handelt sich um zwei frühere dänische Freiwillige der Waffen-SS. Einer davon lebt heute in Schweden. Wir warten jetzt auf die Entscheidung, ob die beiden vor Gericht gestellt werden. Unklar ist auch, ob Schweden den zweiten Verdächtigen ausliefern wird.» Wieder ist Geduld gefragt. Aber die hat Efraim Zuroff in den letzten 35 Jahren bereits bewiesen.

 

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