24. November 2017, 19:02 Uhr sueddeutsche.de
Die Spur des Falken
Von Silke Bigalke

Eine litauische Autorin erntet extremen Hass wegen einer unbedachten Äußerung zur Geschichte des Landes. Der Fall zeigt vor allem auch, wie sehr das wiedererstarkte Russland viele Balten verunsichert.

Sie wohnt am Stadtrand von Vilnius, fast im Wald. Vom Sofa aus schaut Rūta Vanagaitė auf beruhigendes Grün und stellt sich vor, sie wäre in Skandinavien. Überall, nur nicht in Litauen. Dort schlägt der Autorin so viel Hass entgegen, dass sie nicht mehr vor die Tür geht.

Schuld ist ein Radiointerview. Vier Wochen ist das her, Rūta Vanagaitė stellte ihr neues Buch vor, eine Autobiografie. Doch im Interview sprach sie über den litauischen Widerstandskämpfer Adolfas Ramanauskas, Codename Vanagas, Falke. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte er Partisanen im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer. 1957 wurde er vom KGB hingerichtet. Litauens Regierung will ihm das Jahr 2018 widmen, da wäre er hundert Jahre alt geworden.

Rūta Vanagaitė hatte geplant, Informationen über den Partisanenführer ins Parlament zu tragen. In dem Interview nahm sie das vorweg, deutete an, dass Ramanauskas für den KGB gearbeitet haben könnte und womöglich Menschen verriet, die ihn versteckt hatten. Heute tut ihr es leid, denn stichhaltige Beweise hat sie nicht. "Ich hätte das als Frage formulieren sollen", gibt sie zu.

Nach dem Interview nahm ihr Verlag ihre sechs Bücher aus den Läden, auch das über Altenpflege und das für Frauen über 50. Ihre Aussage über Ramanauskas sei mit den Werten des Verlags unvereinbar.

Vytautas Landsbergis, früheres litauisches Staatsoberhaupt, schlug Vanagaitė vor, in den Wald zu gehen, eine Espe zu suchen (den Baum, an dem sich Judas erhängte) und "nachzudenken und sich selbst zu richten". Es ist nicht das erste Mal, dass man Vanagaitė vorwirft, sich zum Werkzeug russischer Propaganda zu machen.

Rūta Vanagaitė hat eine Erklärung für den Hass: Der Stolz auf die Partisanen sei wohl das einzig Gute, das dem Land noch geblieben ist. "Es war, wie einem Humpelnden die Krücke wegzuziehen", sagt sie.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges fürchten Litauer den Einfluss russischer Propaganda

Das allein ist es nicht. Der Streit um die Partisanen, die Waldbrüder, rührt an einer sehr aktuellen Angst der Balten. Sie fürchten, dass Moskau ihr Selbstverständnis und ihre Selbstbestimmung untergraben könnte. Für die Sowjets waren die Waldbrüder Terroristen, für die Balten sind sie Freiheitskämpfer und Beweis, dass sie ihre Unabhängigkeit nicht freiwillig aufgaben. Diese Sichtweise ist ihnen seit Beginn des Ukraine-Krieges 2014 noch wichtiger. Das Außenministerium warnt regelmäßig vor Versuchen Russlands, Litauen durch Propaganda zu schwächen. Wer das Land spalten will, für den ist der Streit um die Waldbrüder eine gute Plattform.

In Vilnius gibt es ein Museum der Opfer des Genozids, es widmet der Geschichte der Widerstandskämpfer mehrere Räume. Das Baltikum fiel 1940 durch den Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion, 1941 marschierten die Nazis ein, 1944 kehrte die Rote Armee zurück. 200 000 litauische Juden fielen den Nazis zum Opfer, die Sowjets deportierten Zehntausende Einwohner. Für die Litauer, sagt Politikwissenschaftler Kestutis Girnius, waren die Sowjets der Hauptfeind. Sie besetzten das Land noch vor den Deutschen und blieben mit Unterbrechung fast fünf Jahrzehnte.

Girnius schrieb bereits in den Achtziger Jahren ein Buch über die Partisanen. Er ärgert sich über Vanagaitės dumme Äußerung, aber auch über den Verlag. "Ein Bücherbann ist wie eine Bücherverbrennung - etwas, das Nazis tun", sagt er. "Das füttert nur die russische Darstellung, dass die Partisanen genau wie die Litauer heute nichts anderes als Faschisten sind."

Die Nato, die den baltischen Staaten Anfang 2017 Truppen zur Verstärkung schickte, veröffentlichte im Sommer einen Film über die Waldbrüder, sie werden darin positiv dargestellt. Russlands Außenministerium reagierte: Man hätte erwähnen müssen, dass die sogenannten Freiheitskämpfer bis zu den Ellbogen in Blut steckten.

Die Waldbrüder waren bunt zusammen-gewürfelt, hauptsächlich Männer, die in die Wälder flohen, um nicht der Roten Armee dienen zu müssen. Ramanauskas etwa unterschrieb unter Druck eine Verpflichtungserklärung für den KGB. Von einigen Partisanen weiß man, dass sie sich an der Ermordung von Juden beteiligten. Bei Ramanauskas gibt es keine Hinweise.

Auch Rūta Vanagaitė behauptet nicht, er sei Nazi gewesen. Doch ihr letztes Buch drehte sich um Litauer, die auf deutschen Befehl Juden erschossen. Das ist nun auch aus den Läden verschwunden. Sie hat es gemeinsam mit Efraim Zuroff vom Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Zentrum geschrieben, heute sind die beiden ein Paar. Zuroff habe wohl auch Informationen über Ramanauskas in Israel gesammelt, die habe sie aber gar nicht mehr angesehen, auch im Parlament war sie nicht.

Vor dem Best Western-Hotel in Vilnius stehen drei Männer in Uniform. Drinnen tagt die Litauische Schützenunion, eine Freiwilligenmiliz, die mit dem Militär, der Feuerwehr, der Polizei, dem Grenzschutz zusammenarbeitet. Die Rednerliste ist lang und prominent, Gäste aus den Nachbarländern, dem Verteidigungsministerium und von Nato-Partnern sind da. Es geht immer wieder um die "russische Aggression", um Trolle, um Informationskrieg. Ein Parlamentarier aus Estland sagt, dass Moskau die baltische Geschichte zerstören wolle. "Die Waldbrüder waren nicht nur ein paar Desperados, sie standen für die gesamte Gesellschaft." Es gebe heute eine Fortsetzung der Waldbrüder.

Nur Stunden, nachdem Ramanauskas 1956 gefangen genommen worden war, wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Er war schwer verletzt, ihm waren die Hoden ausgerissen worden, sein Auge war mehrfach durchstochen. Eine Notoperation rettete ihn. Der Krankenbericht sagt später: selbst zugefügt. Viele fragen sich, wie Vanagaitė die Folter bezweifeln kann.

Sie wisse es nicht, sagt die Autorin. Aber es müsse erlaubt sein, Fragen zu stellen. Sie holt ihre Kladde mit Notizen, sie hat mehrere Tagen in öffentlich zugänglichen KGB-Akten über Ramanauskas gelesen. Sie überlegte, ein Buch zu schreiben, wird das jetzt wohl lassen. "Ich habe eine Grenze überschritten", sagt sie. Vor ihr liegt ihre Autobiografie, ein Huhn mit einem Fischkopf auf dem Titel. So hat sie mal ein Leser in seiner Wut genannt: Huhn mit Heringskopf. Sie will das Buch jetzt aktualisieren und dann selbst veröffentlichen. Mit neuem Titel. Doch erst mal wird sie den eigenen Kopf noch für eine Weile einziehen.

sueddeutsche.de