25.05.2016 hiergeblieben.de
Die Asche der Toten ist nicht sichtbar und doch allgegenwärtig
Von Silke Buhrmester

Oswiecim (Auschwitz). Der schwarz-weiße Schlagbaum ist geöffnet, die Menschen strömen durch den Eingang. Unter dem Tor mit der zynischen Aufschrift "Arbeit macht frei" bleiben viele stehen, schießen Selfies und Klassenfotos zur Erinnerung. Die roten Backsteingebäude des Stammlagers Auschwitz I erinnern in diesem Moment eher an ein Freilichtmuseum als einen Ort, in dem Millionen ihr Leben ließen.

Ich gehe den staubigen Weg entlang, begleitet von Krystyna Oleksy. Die ehemalige Leiterin der Erinnerungsstiftung Auschwitz, Jahrgang 1949, eine kleine Dame mit rötlichem Pagenschnitt, hat ihr ganzes Leben lang in der Nähe von Auschwitz gelebt. Seit zwei Jahren ist sie pensioniert, seither führt sie deutsche Gruppen über das Gelände. Zielstrebig geht sie auf den ersten Block zu, in dem das Grauen viele Gesichter bekommt: Häftlingsporträts hängen in scheinbar unendlichen Dreierreihen auf beiden Seiten des langen Flurs, darunter der Name, Geburtstag und -ort, der Beruf. Das Sterbedatum. Es ist ein beklemmendes Gefühl, in all diese Gesichter zu blicken, die ihr Schicksal eint: in Auschwitz getötet worden zu sein.

Krystyna Oleksy deutet auf die Dokumente hinter Glas, auf denen die SS alles akribisch notiert hat: Aufnahmedokumente, gefälschte Totenscheine, Bestellformulare für das Giftgas Zyklon B - dann auf die Berge von leeren Giftdosen: "Fünf bis sechs Kilo brauchte man, um 2.000 Menschen zu töten."

Immer wieder wird die ungeheuerliche Dimension des Massenmordes sichtbar. Eine eng beschriebene Liste führt alles auf, was den Neuankömmlingen genommen und zumeist an Deutsche weitergegeben wurde: 155.000 Frauenmäntel, 60.000 Schlüpfer, 119.000 Kleider, 132.000 Männerhemden ... : "Es ging nicht nur ums effiziente Töten, sondern auch um die bestmögliche Verwertung der Habseligkeiten", sagt Krystyna Oleksy. Dann geht sie schweigend zum Ende des Raumes und wartet. Sie weiß, dass es Zeit braucht, das Unfassbare nur ansatzweise zu erfassen.

Meterhoch türmen sich Schuhe hinter zwei gegenüberliegenden Vitrinen in dem nächsten Block auf: 80.000 sind es geschätzt - bunte Frauenschuhe, schlichte oder schicke Herrenschuhe, kleine Kinderschühchen. In den nächsten Räumen Brillen über Brillen, Rasierpinsel, Haarbürsten, Kämme, Berge von buntem Blechgeschirr, Prothesen, Krücken, Korsetts, zahllose Koffer: "Klara Sar Goldstein Rotes Kreuz" steht auf einem. Gegenstände des Alltags, die die Deportierten nicht mehr brauchten. Massenhaft steht hier für Massenmord.

"Bitte hier nicht fotografieren - aus Respekt für die Opfer", sagt Krystyna Oleksy, bevor wir den nächsten Raum betreten. Hinter der riesigen Glasscheibe türmt sich eine aschblonde Masse - Haar, das von vergasten Menschen stammt: "Eine Analyse hat ergeben, das ihm noch Zyklon B anhaftete." 50 Pfennig zahlte die Industrie für ein Kilo Haare, dokumentiert ein Lieferschein. Zwei Tonnen sind hier ausgestellt. Wie viel Haarschöpfe von wie vielen Opfern mögen das sein? Krystyna Oleksy erzählt von dem Schicksal der Kinder: "Nur 650 haben überlebt", sagt sie und deutet auf die Wand mit den Porträts der ermordeten Jugendlichen in "Zebra-Anzügen", wie sie die Häftlingskleidung nennt, auf die Vitrine mit einzelnen Schühchen, zerrissener Kinderkleidung und einer zerbrochenen Puppe.

28 Blöcke hatte das Stammlager, bis zu 1.000 Menschen waren in einem Block untergebracht, sie teilten sich 16 Toiletten. In vielen Blöcken sind heute Ausstellungen untergebracht, die das Schicksal der Juden aus den einzelnen Ländern wie Frankreich, Ungarn, Tschechien oder den Niederlanden, aber auch der Sinti und Roma beleuchten.

An der "Schwarzen Wand" im Innenhof zwischen Block 10, dem Lagergefängnis, und Block 11, in dem die Lagerärzte die Sterilisierungsexperimente an Frauen durchführten, haben Menschen Kränze und Blumen niedergelegt. Sie erinnern an die Opfer der Massenerschießungen und Folterungen. Im Erdgeschoss des Blocks 10 hängen über den Waschbecken noch die Häftlingsanzüge, die die Todeskandidaten ausziehen mussten, bevor sie nackt den Weg durch ein eisernes Tor in den Innenhof antreten mussten. Wer in den Zellen des Lagergefängnisses - des Bunkers - im Kellergeschoss saß, hörte die Schüsse - sehen konnte er die Exekution nicht, die Fenster waren zugemauert.

Krystyna Oleksy weist auf die Dunkelzelle mit einem winzigen Spalt für die Luftzufuhr. Wenige Meter entfernt liegen die vier Stehzellen, die nur durch eine Kriechluke zu erreichen waren. Auf engstem Raum stehend wurden dort bis zu vier Häftlinge pro Zelle eingesperrt. Tödliche Folter. Hier im Bunker wurden auch die ersten Gefangenen mit Zyklon B vergast, denke ich, währen ich den Flur entlanggehe. Es fällt schwer, die Fassung zu bewahren.

Am Rande des Lagers endet der erste Tag der Führung durch das Stammlager im ersten und einzigen noch erhaltenen Krematorium von Auschwitz, unweit der Villa, in der Lagerkommandant Höß mit seiner Familie lebte. Die Gaskammer - ein kahler, schäbiger Raum mit einer kleinen Luke, durch die die Giftdosen geworfen wurden: Lange stehe ich da und versuche mir vorzustellen, wie hier Hunderte Menschen zusammengepfercht in den Tod geschickt wurden - es geht nicht.

Wie lautet die Steigerungsform von Hölle? Birkenau? Man mag es kaum glauben an diesem sonnigen Mai-Morgen. Insekten summen, Vögel zwitschern, ein Reh springt aus dem Wäldchen. "Manche sagen, dass die beste Zeit für einen Besuch ist, wenn es kalt ist. Ich finde den Frühling am besten. Alles blüht - größer könnte der Gegensatz zwischen Leben und Vernichtung nicht sein", begrüßt uns die Historikerin.

Nicht mehr viel ist von dem Vernichtungslager Birkenau, drei Kilometer vom Stammlager entfernt, zu sehen. "Viele der von den Nazis vertriebenen Polen sind nach dem Krieg wiedergekommen und haben das Holz als Baumaterial benutzt", weiß sie. Dennoch: Die wenigen verbliebenen Baracken geben einen Eindruck von den unmenschlichen Lebensbedingungen. Auf dem nackten Boden mussten die Menschen schlafen, "für 52 Pferde" steht auf einem Schild in dem Stall, in denen sie zusammengepfercht wurden. Daneben werfe ich einen Blick in eine der wenigen "Hygienebaracken": Drei Reihen mit zahllosen Betonlöchern dienten als Latrinen. "Die Häftlinge durften sich dort nur frühmorgens und spätabends entleeren", erzählt Krystyna Oleksy.

Auf der anderen Seite des riesigen Areals ist noch die Kinderbaracke erhalten: "Wahrscheinlich haben Häftlinge versucht, es den Kindern ein bisschen erträglicher zu machen", sagt sie und weist auf die Wandmalereien, die Kinder auf dem Schulweg zeigen. Konnte man die gemauerten Löcher auf drei Etagen, die als Schlafstätte dienten, überhaupt ertragen? Die vier Krematorien, in denen die industrialisierte Massenvernichtung geschah, sind nur noch Ruinen. Sie wurden von den Nazis selbst und bei einem Häftlingsaufstand zerstört. Dagegen ist die Rampe, an der ab Mai 1944 tausende Juden aus Ungarn täglich ankamen, bestens erhalten. Wir gehen den Weg in die Gaskammern, nur ein paar 100 Meter Richtung Wäldchen, ab. Ein Foto vor den Ruinen der Krematoriums zeigt, wie das Gebäude einmal aussah. Auf einem weiteren sind jüdische Frauen und Kinder, zu sehen. Sie stehen vor dem Gebäude, schauen arglos in die Kamera, wissen nicht, dass alsbald der Gastod auf sie wartet.

Ich halte inne, während Krystyna Oleksy leise erläutert: "Vier schwarze Steine mit englischer, hebräischer, jiddischer und polnischer Inschrift erinnern überall im Lager an die Stellen, in denen die Asche der Toten verstreut wurde." Es gibt viele solcher Stellen auf dem Gelände, auf Wiesen, in Teichen. Die Asche der Toten ist nicht sichtbar und doch allgegenwärtig. Sie darf nicht vergessen werden.

Oswiecim und die Gedenkstätte

Oswiecim liegt etwa 50 Kilometer westlich von Krakau und wurde erstmals 1179 urkundlich erwähnt.

Bereits im 15. Jahrhundert stellten Juden die Bevölkerungsmehrheit.

1916 errichtete die Stadt ein Barackenlager für Wanderarbeiter, ab 1940 das Konzentrationslager Stammlager Auschwitz I.

Am 4. September 1939 wurde die Stadt von der deutschen Wehrmacht besetzt.

Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten zirka 12.000 Menschen in Oswiecim, davon 7.000 Juden.

Auschwitz bestand neben dem Stammlager außerdem ab 1941 aus dem Vernichtungslager Birkenau (Auschwitz II) und später Auschwitz III Monowitz - Arbeitslager der IG Farben - sowie rund 50 Nebenlagern in der Umgebung.

In Auschwitz wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen, der größte Teil davon Juden, ermordet.

Die meisten Juden aus Oswiecim wurden im KZ Auschwitz umgebracht, nur 186 überlebten, heute lebt in dem Ort kein Jude mehr.

Die staatliche Gedenkstätte wurde am 2. Juli 1947 auf Beschluss des polnischen Parlamentes von Überlebenden des Lagers begründet.

Ihre Fläche umfasst 191 Hektar, wovon 20 Hektar auf das Stammlager Auschwitz I und 171 Hektar auf Birkenau entfallen.

Seit 1979 gehört die Gedenkstätte zum Weltkulturerbe der UNESCO.

Von Ostwestfalen-Lippe bis nach Auschwitz sind es rund 900 Kilometer. Fahrzeit etwa neun Stunden, mit dem Flugzeug von Dortmund nach Krakau etwa zwei Stunden.

Von Krakau gibt es Tagestouren zur Gedenkstätte für umgerechnet 25 Euro.

Eine Besichtigung der Gedenkstätten ohne Guide ist nur vor 10 und nach 15 Uhr möglich, aber nicht zu empfehlen. Für eine intensive Auseinandersetzung benötigt man mindestens zwei Tage.

Kostenpflichtige Führungen in verschiedenen Sprachen und Längen sind über die Homepage der Gedenkstätte buchbar:

www.auschwitz.org

Bildunterschrift: Massenhaft seht für Massenmord: In raumfüllenden Vitrinen türmen sich hinter Glas die Schuhe der Opfer - bunte Ballerinas, Herren-Schnürschuhe, Hochhackige, Sandalen, Kinder- und Babyschühchen. Sie sind Synonym für das unvorstellbare Ausmaß der Menschen-Vernichtung.

Bildunterschrift: Der Weg in den Tod: An der Rampe in Birkenau kamen die Züge an. Hunderttausende mussten den Weg links in Richtung des Wäldchens gehen. Rechts und links davor standen die Krematorien II und III.

Bildunterschrift: Geheime Mordstätte: Im Krematorium I im Stammlager - dem einzig erhaltenen - wurden die Leichen in der Anfangszeit verbrannt.

Bildunterschrift: Menschenverachtend: Latrinen in einer "Hygienebaracke" in Birkenau. Häftlinge durften sie nur frühmorgens und spätabends benutzen.

Bildunterschrift: Opfer, überall Opfer: Krystyna Oleksy führt durch die KZ-Gedenkstätte und zeigt eine von vielen Wänden, an denen die Fotos von Menschen ausgestellt sind, die in Auschwitz ermordet wurden.

Bildunterschrift: Kein Entkommen: Noch immer warnt das Schild, das vor dem doppelten Stacheldraht-Zaun im Stammlager hängt, vor Hochspannung.

Bildunterschrift: Die Galgen im Stammlager: Zur Abschreckung wurden hier Häftlinge, beispielsweise nach einem gescheiterten Ausbruch, öffentlich gehenkt.

Bildunterschrift: Ort der Massenerschießungen: An der Schwarzen Wand haben Menschen Blumen niedergelegt. Im rechten Block war das Lagergefängnis untergebracht, im linken wurden Sterilisationsexperimente gemacht.

Bildunterschrift: Rummel am Lager-Eingang: Noch schnell ein Erinnerungsfoto unter dem Torbogen mit der zynischen Aufschrift "Arbeit macht frei".

Bildunterschrift: Die jüngsten Opfer: Besonders bedrückend sind für viele Gedenkstätten-Besucher die Fotos und Habseligkeiten der ermordeten Kinder.

Bildunterschrift: Die Einfahrt zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: Dieses Foto ist ein weltweites Symbol für die industrialisierte Massenermordung der überwiegend jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten.

Bildunterschrift: Blick in den Flur der Häftlingsunterkunft: Der Block 2 im Stammlager ist bis heute unverändert. Er ist öffentlich nicht zugänglich.

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