09.06.15 welt.de
So halfen polnische Bauern beim Judenmord
Von Jessica Caus

Ein kanadischer Historiker hat erforscht, wie katholische Polen die deutschen Besatzer bei der Jagd auf untergetauchte Juden unterstützten. Es gab Zucker, Wodka und gebrauchte Kleider als Belohnung.

Hilfe aus Eigennutz und aus Profitgier – ist das überhaupt noch Hilfe? Sollte ihr nicht wenigstens etwas Altruismus innewohnen? Für Michał Kozik offenbar nicht. Von 1942 bis 1944 beherbergte der katholische Pole die Jüdin Rywka Glückmann und ihre zwei Söhne in seinem Haus in Dąbrowa Tarnowska, einem Landkreis etwa 80 Kilometer östlich von Krakau.

Kozik hatte ihnen ein Versteck gewährt, verlangte dafür aber Geld. Als die drei nicht mehr zahlen konnten, tötete er sie mit einer Axt. Ihre Schreie waren noch einige Häuser weiter zu hören.

Viele polnische Juden suchten während des Zweiten Weltkriegs Unterschlupf. Denn die deutschen Besatzer waren dabei, die Gettos zu "räumen", in die 1939/40 die meisten Juden zwangseingewiesen wurden; die Getto-Insassen wurden inVernichtungslager gebracht. Um der Deportation zu entgehen, flüchteten viele in ländliche Gebiete. Sie versteckten sich in Wäldern oder suchten Schutz bei Einheimischen.

Um die entwichenen Juden aufzuspüren, stifteten die für das Besatzungsregime zuständigen deutschen Polizisten die überwiegend katholische, oft antisemitisch eingestellte Landbevölkerung an, ihnen zu helfen. Sehr oft wurde aus der Suche eine tage- oder sogar wochenlange Jagd. Der Historiker Jan Grabowski von der Universität Ottawa präsentiert jetzt in seinem Buch "Hunt for the Jews. Betrayal and Murder in German-Occupied Poland" ("Judenjagd. Verrat und Mord im deutsch besetzten Polen") neue Forschungsergebnisse über einen bislang meist übersehenen Aspekt des Holocaust.

Grundsätzlich sind judenfeindliche Einstellungen und Taten im Polen des 20. Jahrhunderts nicht neu. Der bekannteste Übergriff auf europäische Juden nach dem Krieg fand am 4. Juli 1946 in Kielce statt. Polnische Milizen und Zivilisten attackierten bei diesem Pogrom Überlebende des nationalsozialistischen Rassenwahns, angefacht von Gerüchten über die Entführung eines Kindes, die Juden begangen hätten. 42 Menschen starben.

Ebenfalls gut erforscht ist das Massaker von Jedwabne. In der Kleinstadt nordöstlich von Warschau trieb am 10. Juli 1941 ein polnischer Mob die jüdische Bevölkerung auf dem Marktplatz zusammen. Manche wurden, in Anwesenheit deutscher Besatzer, bereits dort öffentlich misshandelt und ermordet, die anderen in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leib verbrannt. Rund 340 Männer, Frauen und Kinder verloren ihr Leben.

Als der amerikanische Historiker Jan Grossdie Vorgänge 2001 in seinem Buch "Nachbarn" detailliert beschrieb, sorgte das für Aufsehen, in Polen und international. Gross stellte die These auf, die Ausschreitungen hätten ohne jegliche Anstiftung oder Beteiligung der Deutschen stattgefunden; die anwesenden Uniformierten hätten lediglich gefilmt. Obwohl das polnischeInstitut für Nationales Gedenken Gross' Untersuchungsergebnisse nicht widerlegen konnte, wurde er stark kritisiert für die aktive Rolle, die er Polen im Holocaust zuschrieb.

Grabowskis neue Erkenntnisse beruhen auf polnischen, jüdischen und deutschen Quellen, auf Akten ebenso wie auf Zeugenaussagen und auf Dokumenten von Prozessen nach dem Krieg. Sein Buch beschreibt die organisierte Suche nach Juden, die vor oder während der Getto-Auflösungen 1942 und 1943 untergetaucht waren, und spitzt die Thesen von Gross noch einmal zu. Denn während in Jedwabne zumindest deutsche "Kameramänner" anwesend waren, haben Grabowski zufolge manche Polen in der Umgebung der Stadt Dąbrowa Tarnowska aus eigenem Antrieb und ohne das Beisein deutscher Einheiten Juden getötet, die sich in ihrer Gegend versteckten.

Menschenjagd aus eigenem Antrieb

In der Hoffnung, weiterhin am Leben zu bleiben, flohen viele einheimische Juden aus den Gettos in die Wälder und Dörfer des Landkreises. Sie versteckten sich in Höhlen und anderen Schlupflöchern, in Scheunen, Ställen oder Baracken. Oft auch in Kellern und auf Dachböden polnischer Bauern. Ständig lebten sie in der Angst, entdeckt zu werden – oder zu verhungern.

Grabowski unterteilt die "Judenjagd" in zwei Phasen. Die erste stand demnach in direktem Zusammenhang mit der "Räumung" der Gettos und wurde vorwiegend von deutschen Kommandos, dem polnischen Baudienst und jüdischen "Ordnungsdiensten" umgesetzt. Wer dieser Verfolgung entkommen war, wurde in der zweiten Phase zum Ziel. Beteiligt daran war neben abermals deutschen Einheiten die "blaue Polizei", polnische Uniformierte also, die der Besatzungsmacht verpflichtet waren.

Natürlich galt für die Landbevölkerung die Anweisung, bei der Jagd mitzuwirken. Doch oft war das gar nicht nötig: Viele Zivilisten nahmen den Quellen zufolge freiwillig und eifrig daran teil: Sie verrieten Juden, deren Verstecke sie kannten, an die Polizisten – die sie entweder gleich erschossen oder zur nächstgelegenen Sammelstelle für gefundene Juden brachten, um sie dort zu ermorden. Oft war dies einfach der jüdische Friedhof.

Wie bei einer Treibjagd durchkämmten polnische Bauern die Wälder mit Schlagstöcken, um die Versteckten in die Arme der am Waldrand wartenden Milizen zu scheuchen. Sie zündeten Hütten an, in denen sie Juden vermuteten, oder warfen Handgranaten in die Keller, in denen sie sich verstecken mochten. Sie traten Türen ein, zertrümmerten Fenster, um Untergetauchte zu ergreifen. In einer nicht genau bekannten Zahl von Fällen töteten sie auch eigenhändig. Durch diese "Judenjagd" starben allein in Dąbrowa Tarnowska 286 Menschen.

Durch Strafen und Belohnungen förderte die Besatzungsmacht die Beteiligung der örtlichen Bevölkerung. Für jeden Juden, den man verriet oder umbrachte, gab es Prämien, etwa Zucker, Wodka, Kartoffeln, Öl oder die Kleidung der Gefassten. Wer den Flüchtigen hingegen half, wurde wegen "Judenbegünstigung" im schlimmsten Fall selbst ermordet.

Doch einige Polen halfen trotzdem. Zwar verlangten viele Geld dafür. Sie machten also Geschäfte mit der Hilflosigkeit. Andere allerdings nahmen Juden aus Nächstenliebe bei sich auf. Den 286 Toten stehen so rund 50 Juden im Landkreis gegenüber, die durch Unterstützung christlicher Polen am Leben blieben. Doch sie blieben Ausnahmen.

Keine Relativierung des Holocaust

Am Beispiel Dąbrowa Tarnowska zeigt Grabowski, dass ohne die Komplizenschaft der örtlichen Bevölkerung oft mehr Juden den Holocaust hätten überleben können. Die Motive waren unterschiedlich: deutsche Anstiftung, die Hoffnung auf Belohnungen, die Angst vor Strafe, aber ebenso jahrhundertealte antisemitische Vorurteile und schlichter Eigennutz. Und natürlich die Verrohung, zu der die fortwährende judenfeindliche Propaganda der Besatzer geführt hatte.

Natürlich ändern Grabowskis Ergebnisse nichts an der Schuld deutscher Verantwortlicher für den millionenfachen Judenmord. Aber sie ergänzen das Bild, machen es klarer. Jeder Versuch, den Holocaust mit Verweis auf antisemitische Gewalt katholischer Polen zu relativieren, geht völlig an der Sache vorbei.

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