18.10.19, 11:23 Uhr mopo.de
KZ-Wachmann (93) in Hamburg vor Gericht Darum kommt es erst jetzt zum Prozess
Von Simone Pauls

VEr war SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthoff – und steht seit Donnerstag in Hamburg vor Gericht, 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bruno D. (93) wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen. Damit einer der letzten Prozesse um die NS-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs begonnen. Verhandelt wird vor der Jugendstrafkammer.

Im Rollstuhl wird der Angeklagte in den Saal 300 des Strafjustizgebäudes geschoben. Er hält sich eine rote Mappe vor das Gesicht und trägt eine Sonnenbrille, damit er auf Fotos nicht erkennbar wird. Trotz seines hohen Alters hat Bruno T. volles Haar, seine Stimme klingt fest. Er verfolgt den Prozess aufmerksam. Wie es in seinem Inneren aussieht, ist ihm nicht anzumerken. Seine Frau und seine zwei Töchter begleiten ihn. Es war sein ausdrücklicher Wunsch. Eine der Töchter sitzt direkt neben ihm. Sie trägt ein rosa Kopftuch. 

„Rädchen der Mordmaschinerie“

Der Staatsanwalt benötigt 15 Minuten, um die Anklage zu verlesen. Der greise Angeklagte war im Alter von 17 und 18 Jahren Wachmann in dem Konzentrationslager nahe Danzig. Laut Anklage gehörte es zu den Aufgaben von Bruno D., Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern.

Ihm wird deshalb vorgeworfen, als „Rädchen der Mordmaschinerie“ in Kenntnis aller Gesamtumstände dazu beigetragen zu haben, dass der Tötungsbefehl umgesetzt werden konnte. Bruno D. tat mit Waffe Dienst auf Wachtürmen und bewachte Arbeitskommandos von Häftlingen. Bis zur Befreiung des Lagers durch die russischen Alliierten starben in dem Lager im heutigen Polen 65.000 Menschen. 

Beim Prozessauftakt äußert sich Bruno D. nicht den Vorwürfen, stattdessen verliest sein Anwalt eine Erklärung. Sein Mandant sei kein Anhänger des NS-Systems gewesen, so der Jurist. Er sei eingezogen worden und nach der Grundausbildung als Aufseher in Stutthof gelandet. „Er hat sich den Dienst im Konzentrationslager nicht ausgesucht“, so der Anwalt.


Nach dem Krieg sei Bruno D. nicht untergetaucht, sondern habe in Hamburg unter seinem Namen gelebt. „In der ganzen Zeit hat man sich nur zwei Mal für seine Zeit in Stutthof interessiert“, so der Anwalt. 1975 gab es Vorermittlungen im Rahmen eines Sammelverfahrens, 1982 wurde er außerdem im Hamburger Polizeipräsidium zu seiner Zeit als KZ-Wachmann befragt.

„Die Tatsache, dass er Wachmann in Stutthof war, ist seit Jahrzehnten bekannt", so der Jurist. Dass es nun eine Änderung der Rechtssprechung gegeben hat, dürfe seinem Mandanten nicht zur Last gelegt werden. „Die Vorwürfe sind für ihn nicht zu verstehen“.  

Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen? 

Hintergrund ist eine Änderung der Rechtssprechung im Jahr 2011. Bis dahin wurden nur ehemalige NS-Verbrecher angeklagt, denen man eigenhändiges Töten nachweisen konnte. 2011 wurde John Demjanjuk, ehemals Wachmann im deutschen Vernichtungslager Sobibor, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen verurteilt. Seitdem wird auch gegen Wachleute ermittelt, die nicht persönlich für einzelne Tötungen verantwortlichen waren.

Warum es nun zum Prozess gekommen ist? Die „Zentrale Stelle für Aufklärung von NS-Verbrechen“ war auf ein Dokument gestoßen, in dem der junge Bruno D. den Empfang seiner Uniform quittiert hatte – dies löste Ermittlungen aus, die am Ende zur Anklage führten.

Sein Mandant stehe zu allem, was er bislang bei Polizei und Staatsanwaltschaft gesagt habe, so sein Verteidiger. Bruno D. sei bereit, später im Prozess Fragen von Richter und Staatsanwaltschaft zu beantworten. Wie die „Welt“ berichtete, hat sich der Angeklagte bereits im vergangenen Jahr umfassend eingelassen und zugegeben, von Tötungen gewusst zu haben. Verantwortlich dafür fühlte er sich aber nicht. 

Weil Bruno D. gesundheitlich angeschlagen ist, dauert jeder Prozesstag nur zwei Stunden, der erste Prozesstag ist bereits nach einer Stunde zu Ende. Vorsichtshalber sind drei Ärzte im Saal anwesend. 

Prozess gegen SS-Wachmann wird am Freitag fortgesetzt

Für den Prozess sind bis zum 17. Dezember insgesamt zwölf Termine angesetzt. Es gibt 33 Nebenkläger. Zahlreiche Medienvertreter begleiten den Prozess, auch internationale Berichterstatter der „New York Times“ und von „The Guardian“ aus London. Unüblich für Gerichtsverhandlungen: Der Prozess wird aufgezeichnet, und zwar aus „historischen Gründen“, wie die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring sagt.

Auch Wissenschaftler, Hinterbliebene und Opferverbände sind anwesend. Der Chefermittler des Wiesenthal-Centers, Efraim Zuroff, nennt es „wichtig, dass diese Gerichtsverhandlung auch Jahre später stattfindet“. Der Angeklagte sei zwar kein großer Nazi-Führer gewesen, sondern vielmehr ein untergeordneter Wachmann, so Zuroff. „Aber wir schulden diese Gerichtsverhandlung den Opfern, ihren Kindern und Enkelkindern.“

Der Prozess wird am Freitag fortgesetzt. Dann bekommen die Anwesenden eine Präsentation über das Konzentrationslager Stutthof gezeigt. 

mopo.de