15.10.2019 15:22 Uhr spiegel.de
Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen

SS-Wachleute wie Bruno D. hielten die tödliche Maschinerie der Nazis am Laufen: Ab Donnerstag muss sich der 92-Jährige vor dem Landgericht Hamburg verantworten. Doch wird der Prozess überhaupt mit einem Urteil enden?

Sie habe immer Hunger gehabt, sagt Dora Roth. Damals, als sie als Kind mit ihrer Mutter im Konzentrationslager Stutthof interniert war. Ein Leiden, das ihren Alltag bestimmte und ihrer Mutter das Leben nahm: Die Mutter verhungerte, weil sie das bisschen Brot, das man ihr gab, ihrer Tochter zusteckte. "Es war unmenschlich, was man mit uns gemacht hat", sagte die Überlebende Dora Roth in dem Gespräch mit der Deutschen Welle.

In dem Dorf Stutthof, keine 40 Kilometer entfernt von Danzig, errichteten die Nationalsozialisten ein Internierungslager für mehr als 100.000 Juden und politische Gegner. Ab 1941 stand es unter der Ägide der Gestapo, rund 65.000 Menschen wurden dort ermordet.

Konnte man als Wachmann das Unrecht übersehen?

Es gab kaum eine Art des Tötens, die es in Stutthof nicht gab: Die Menschen starben durch Vergasen, Erschießen, Verhungern, Erfrieren, zu-Tode-Arbeiten und durch das Verweigern von medizinischer Versorgung. Überlebende schilderten, wie die Leichen vor den Baracken abgelegt, wie die Schuhe zu einem großen Haufen zusammengetragen wurden.

Konnten die SS-Männer auf den insgesamt 25 Wachtürmen des Lagers das Unrecht, die Folter, das systematische Morden übersehen?

Eine Frage, auf die Bruno D. ab Donnerstag eine Antwort geben könnte. Von August 1944 bis April 1945 soll er als SS-Wachmann im KZ Stutthof seinen Dienst verrichtet haben: 1. Kompanie des Totenkopfsturmbanns. Damals war Bruno D. 17, 18 Jahre alt. Heute ist er 92 und gesundheitlich angeschlagen.

Bruno D. muss sich vor der Großen Strafkammer 17 des Landgerichts Hamburg verantworten - wegen des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen. 5000 davon durch Herbeiführen und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen, 200 durch Vergasung und 30 durch eine Genickschussanlage.

Die Jugendschwurgerichtskammer muss entscheiden, ob Bruno D. durch seinen Wachdienst beim Vernichten von Menschen half, ob er "wissentlich die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge" unterstützt hat, wie es ihm die Anklage vorwirft.

Demnach soll Bruno D. die Flucht, die Revolte und die Befreiung von Häftlingen verhindert haben. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft trug er als "Rädchen der Mordmaschinerie" in Kenntnis aller Gesamtumstände dazu bei, "den Tötungsbefehl umzusetzen".

Kooperativ und aussagefreudig

Mehrfach habe Bruno D. bei Vernehmungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft ausgesagt, sagt sein Verteidiger Stefan Waterkamp. Dabei habe er sich kooperativ gezeigt und nicht bestritten, Dienst im KZ Stutthof geleistet zu haben.

Mit dem Prozess gegen Bruno D. beginnt mehr als 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Verfahren gegen einen von vielen Helfern, die das systematische Morden in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten möglich machten. Nur wird auch ein Urteil fallen?

"Eingeschränkt verhandlungsfähig"

Bruno D. ist nach Angaben seines Verteidigers nur "eingeschränkt verhandlungsfähig". Jeder Prozesstag ist deshalb für die Dauer von zwei Stunden angesetzt: "Ich gehe von einer Aufmerksamkeitsspanne von maximal 45 Minuten aus", sagt Anwalt Waterkamp. Das Gericht plane derzeit, nach einer Pause weitere 45 Minuten zu verhandeln. Ein medizinischer Sachverständiger sei vor Ort, der prüfen werde, ob und inwieweit Bruno D. noch in der Lage ist, dem Prozess zu folgen. "Seine Tagesform ist sehr wechselhaft", sagt Waterkamp.

Ein Hamburger Sachverständiger hatte Bruno D. als verhandlungsunfähig eingestuft. Daraufhin holte die Staatsanwaltschaft ein ergänzendes Gutachten ein, das dem 92-Jährigen die eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit attestierte.

Während des Prozesses ist Personen im Gebäude jede Kontaktaufnahme zum Angeklagten und seinen Angehörigen untersagt. "Jede Aufregung für ihn ist besonders gesundheitsgefährdend", sagt sein Verteidiger. Auch sei nicht auszuschließen, dass die akkreditierten Zuschauer die Verhandlung mithilfe einer Videoübertragung verfolgen müssen. "Wenn zu viele Leute im Saal sind, könnte es sein, dass ihn das negativ beeinträchtigt."

Ausgelöst wurden die jüngsten Prozesse durch eine geänderte Rechtsauffassung. Bei deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten hat sich inzwischen die Ansicht durchgesetzt, dass unterstützende Tätigkeiten wie Wachdienste im juristischen Sinn als Beihilfe zum Mord zu werten sind. Früher waren meist nur Täter belangt worden, die hohe Positionen in der NS-Hierarchie innehatten oder sich direkt an Tötungen beteiligten.

Wegweisend war das Verfahren vor dem Landgericht München gegen John Demjanjuk. Der Prozess gegen den einstigen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor endete 2011 mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren: Die Kammer bescheinigte Demjanjuk, "Teil der Vernichtungsmaschinerie" gewesen zu sein, eine konkrete Tat konnte sie ihm nicht nachweisen. Das Gericht wertete bereits seinen Dienst als ausreichend für eine Verurteilung. Das Urteil wurde jedoch nicht rechtskräftig, Demjanjuk starb, bevor über die gegen das Urteil eingelegte Revision entschieden war.

Rechtskräftig wurde hingegen das Urteil gegen den früheren Auschwitz-Buchhalter Oskar Gröning: Der Bundesgerichtshof bestätigte 2016 den Schuldspruch wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen - ein historischer Beschluss.

Das Verfahren gegen Johann R., Wachmann im KZ Stutthof, wurde hingegen im April vor dem Landgericht Münster eingestellt. Ein medizinischer Sachverständiger beurteilte den 95-Jährigen als dauerhaft verhandlungsunfähig.

Die Staatsanwaltschaft Itzehoe in Schleswig-Holstein ermittelt aktuell zudem gegen eine ehemalige Schreibkraft des Konzentrationslagers wegen Verdachts der Beihilfe zum Mord. Die heute 94 Jahre alte Frau arbeitete von 1943 bis 1945 im KZ Stutthof.

An dem Verfahren gegen Bruno D., terminiert bis Mitte Dezember, wollen auch Überlebende und Hinterbliebene teilnehmen, insgesamt sind 28 Nebenkläger zugelassen. Für sie hat dieser historische Prozess eine besondere Bedeutung. Nicht nur, weil sie auf eine rechtsstaatliche Bearbeitung hoffen.

"Wer immer davon weiß, wer davon erzählen kann, der muss es tun", sagte die KZ-Überlebende Dora Roth der Deutschen Welle. "Das ist der einzige Weg, um einen weiteren Holocaust zu verhindern."

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